Falsche Mythen
Reportagen aus Mittel- und Osteuropa nach der Wende.
Der „Eiserne Vorhang" fällt, die tschecho-slowakische Emigrantin reist nach über zwei Jahrzehnten in ihre alte Heimat und sieht eine rissige Hülle, aus der der Nationalismus hervorbricht, aber auch neue Hoffnung. Sie weint mit den Opfern, doch attestiert ihnen auch die Täterschaft. Sie reist für Reportagen weiter, zu den Krimtataren, den ehemaligen sowjetischen Dissidenten, zu den Mafiosi im russischen Fernen Osten, sie porträtiert den russischen Nationalisten Wladimir Schirinowski, den Menschenrechtler Sergej Kowaljow, den GULAG-Reformator Walerij Abramkin, hört zu, kommentiert, erklärt den „wilden Osten“ als Beheimatete und als Fremde. Sie entdeckt unter dem Mimikryspiel der äusseren Hässlichkeit Wahrheitssuchende, Herzlichkeit, Mut, aber auch die Gefahr der Verrohung, den beginnenden Krieg in Tschetschenien. Der subjektive Blick wechselt mit dem der nüchternen Analyse.
Sammelband
„Falsche Mythen“, eFeF-Verlag,
1996 Bern, 191 Seiten, nicht mehr im Buchhandel.
Über die Autorin erhältlich.
Auszüge
Aus "Flüssiger Fetisch"
Rückkehr nach Trenčín
"Wir haben kein Loch in die Welt geschlagen“, sagen sie und senken beschämt den Blick. Wie könnte man in Trenčín na Váhu, inmitten des Horizontes der wiegenden Herzlichkeit, eine wuchtige, eine individuelle Tat vollbringen, mit der die Welt ihre Ganzheit verlieren würde? Das Volksempfinden kennt eine Publizität einbringende Tat nicht als das Ergebnis langwieriger Abmühungen, des gebündelten Willens, nicht als ein Konstrukt mit einem soldiden Fundament, sondern als ein Naturereignis. Der einsame, laute, destruktive Schlag, der über die Gemeinschaft hinausschiesst, löst Furcht und Bewunderung aus. Das Loch in die Welt braucht nicht kommentiert zu werden. Das Loch ist da, ein Mythos, die Tat vollbracht. Von der Trenčínerin. Trink noch einen Borovička. Zier dich nicht. Sei keine verweichlichte Westlerin. Er ist gut auf den nüchternen Magen. Die zerrissenen Fäden knüpfen wir wieder zusammen. (...)
Doch sogleich besinnen sie sich auf das altbewährte Mittel gegen Zwist und Entfremdung. Energisch liebevoll setzen sie meine Söhne vor zwei Teller randvoll mit Hühnersuppe und rennen in den Garten, um Johannisbeeren und Äpfel zu pflücken.
„Na, nimm, nimm schon.“
Süsse Äpfel sind das, teuer sind sie mir im Geschmack und in ihrem verschroebenen, fleckigen Aussehen. Die Gastgeberinnen entschuldigen sich saft für diese Kleinheit und Unvollkommenheit. In ihren glänzenden Augen wachsen die westlichen Früchte zu ebenmässigen Melonen heran. Für den Heimweg bekommen wir Einmachgläser mit selbstgemachter Aprikosenmarmelade. (...)
Nach meiner Rückkehr nach Basel fragt mich ein Schweizer Bekannter:
„Hast du dort einen Gegenstand gesehen, einen wertvollen, einen, den es hier nicht gibt und den man von dort exportieren könnte?“
Ich habe lange überlegt, versuchte mich zu erinnern, dann sagte ich zu ihm:
„Es gibt dort einen Fetisch, den tragen die Menschen immer bei sich. Er ist aber flüssig und unverkäuflich, er rinnt ihnen freizügig über die Wangen.“
Aus "Das Reich des unendlichen Provisoriums"
Die Slowakei am Vorabend ihrer Unabhängigkeit
Hier fängt der slawische Raum an, hier unterscheidet man bei jedem Tätigkeitswort den vollendeten und unvollendeten Verbaspekt, entscheidet sich für den einen oder anderen. Der unvollendete Veraspekt bedeutet in den slawischen Sprachen Kontemplation, Wiederholung, Allgemeingültigkeit. Der Mensch steht inmitten der Zeit, einbezogen ins Geschehen, das sich ohne Anfang, ohne Ende über ihn wälzt. Die Slowakei ist das Reich des unvollendeten Verbaspekts, daher der Eindruck des Statischen, der leisen Bewegung im Kreis in einem urlaubsähnlichen, plätschernden Provisorium, das jedoch ewig zu dauern scheint. Die mitreisende amerikanische Fotografin wurde mit entspannten privaten Gesichtern beschenkt, die hier auch zu öffentlichen Anlässen getragen werden. Ausgestreckt im Liegestuhl, vertraut man sich der fürsorglichen grossen Mutter wie einer warmen Decke an. Die Gesichtszüge werden weich, der verträumte Blick schweift über die grenzenlose Ebene des unvollendeten Verbaspekts. (...)
Die Entscheidung auf dem Scheideweg. Die neuen slowakischen Machtmänner sagen es unverhohlen:
„Wenn uns der Westen nicht aufnimmt, gehen wir in den Osten.“
Davor fürchtet sich der ostslowakische Schweisser. Der Westen, diese Vertikale, erscheint als Garant seines bescheidenen Wohlstandes, den die Slowakei nach dem Krieg erreicht hat. Seine Achtung vor den Tschechen, den „germanisierten Slawen“, wie sie wegen ihrer Ratio genannt werden, ist stärker als die Kränkung, die sie ihm zufügen, wenn sie eine eigenständige slowakische Sprache als eine Variante des Tschechischen belächeln, ihn als ein temperamentvolles Gefühlsbündel von oben herab behandeln oder ihn verklären als den ursprünglichen, nicht entfremdeten Menschen, ähnlich wie der Mann die Frau oder die Weissen die Schwarzen. Eine gängige Wertskala, in der Ratio über der Emotion steht, das Perpetuum mobile über dem Amorphen. Der Überlegene spielt sich als Retter des Ufers vor dem steigenden Wasser auf. Der Westen und der Osten. Die westliche Arroganz, das Besserwissertum und die östlichen Minderwertigkeitskomplexe mit ihrer Suche nach dem nächsten Feind, an dem sich reibend man wachsen kann.
Aus "Heimat oder Tod"
Die Rückkehr der Krimtataren
Ein sechsjähriges Mädchen vergräbt eilig ihre Puppe in einem Graben neben ihrem Haus. Dann wird sie zusammen mit ihrer Mutter und ihren sechs Geschwistern, gestossen von Maschinengewehrkolben, in einen Viehwaggon gesperrt. Der Vater, der ihr die Puppe geschenkt hat, stürmt Berlin in der Uniform der Roten Armee. Hunger und Durst haben die Erinnerung des Mädchens an die tagelange Fahrt von der Krim nach Usbekistan zerfetzt. Wenn der Zug anhält, werden die Leichen am Ufer der Wolga zurückgelassen. Aufgebrachte, organisierte Volksmassen an Bahnhöfen werfen Steine nach den Zügen mit den „Volksverrrätern“. „Väterchen Stalin, was hast du uns angetan, das muss ein Irrtum sein.“
Die heute 56-jährige Historikerin Aische Seitmuratowa sieht immer nur dieses Mädchen vor sich, wie sie in einem gleichnishaften Ritual ihre Puppe versteckt. Als sie 17 Jahre später zum ersten Mal die Krim besuchen darf, geht sie die Strasse zu ihrem Geburtshaus nahe der Stadt Kertsch entlang.
„Ich ging, feuchter, dicker Nebel umgab mich, und auf einmal verzog er sich, und ich sah den Graben, und im Graben lag die Puppe“.
Diese auf der Krim zurückgelassene Puppe, das ist Aische Seitmuratowa selbst, das ist ihre krimtatarische Volksseele, in der Erde der Vorfahren hat sie überdauert. (...)
Seitmuratowa fühlt auf einmal keine Schmerzen, wenn sie auf der Krim ist.
„Dieses Land, auf dem wir jahrhundertelang umhergegangen sind, gibt mir Kraft. Diese Steine, diese Wurzeln sind befruchtet worden von den Knochen, den Tränen, dem Schweiss unserer Vorfahren."
Seitmuratowa weint auf die hiesige Art, leidenschaftlich, gekränkt und entschlossen.
Der Nationalismus in Osteuropa. Die Bolschewiken taten ihn arrogant als „kapitalistische Übergangserscheinung“ ab. Sie rissen die Gebeine aus den krimtatarischen Friedhöfen, gaben den Dörfern und Städten russische Namen, die Volksbezeichnung „Krimtataren“ verschwand aus allen Publikationen. (...)
In den 30 000 noch bestehenden typischen krimtatarischen Häusern wohnen jetzt Russinnen und Russen. Die Krimtataren kommen. Sie kommen, angezogen vom „Kern der Wirklichkeit“, wie Mircea Eliade den Heimatort nennt. Sie graben sich dort auf dem Rosenfeld der Kolchose zunächst einmal ein Loch in die heimatliche Erde, errichten ein Zelt darüber und schreiben darauf ihren Slogan „Heimat oder Tod“. Dann stellen sie ihren mitgebrachten Fernseher in die düstere Behausung, das Bett, den Tisch, die Pfanne, den Teekessel. Sie begeben sich auf die Suche nach Arbeit und machen Bekanntschaft mit dem Misstrauen.
"Warum seid Ihr gekommen?“
„Nach Hause sind wir gekommen, nach Hause“, wiederholen sie für sich selbst und für die anderen, für alle, die es wissen und jene, die es nicht wahrhaben wollen, damit sich in diese Frage auf Leben und Tod kein Zweifel einschleicht.
Aus "Emigrant aus der Heimat des GULAGs"
Waleri Abramkin und der östliche und westliche GULAG
In den Kerkern einer als klassenlos und atheistisch proklamierten Gesellschaft entstand eine strenge Hierarchie der vier Hauptkasten, eine mythische Männerwelt, wo Gegenstände verzaubert sind, wo man für ein dahergesagtes Wort, eine falsche Geste mit dem Leben, mit Verkrüppelung bezahlt oder zu einem Wesen zwischen Mensch und Tier degradiert wird. Ein hochrangiger Gefangener befiehlt dem Verfehlten, von nun an neben dem Toilettenkübel zu schlafen, lässt ihn vergewaltigen, oder es genügt auch, über sein schlafendes Gesicht mit dem Penis zu streifen, und schon ist er unwiderruflich Angehöriger der niedrigsten Kaste der Unberührbaren. Die Entmenschlichung der Hähne, der Ziegenböcke oder der Fallengelassenen, wie die Unberührbaren genannt werden, zeigt sich auch darin, dass sie kein Recht auf Geben haben. Fasst man Gegenstände an, die sie berührt haben, „beschmutzt“ man sich und wird einer von ihnen. (...)
Der GULAG war während des Sowjetregimes der fünftwichtigste Wirtschaftszweif des Landes. Nicht nur die Holzindustrie bediente sich gerne der Zwangsarbeit, kaum ein Industrieprodukt made in UdSSR kam ohne die billigen Hände der Gefangenen aus. In vielen Haftanstalten herrscht jetzt Arbeitslosigkeit anstatt des Frons. (...)
Für Waleri Abramkin ist GULAG der Name für ein System zur „Brechung der Persönlichkeit“. Ein Kulturerbe der UdSSR, immer noch höchst aktuell. Abramkin hält den Sieg der Demokratie in Russland ohne eine Demontage des GULAGs für unmöglich. „Alles, was Alexander Solschenizyn beschreibt, ist noch da: die Konvois, die Schäferhunde, die Wachtürme, die Schläge."
Abramkin warnt auch vor dem weltweiten GULAG und meint damit nicht die bevorstehende Russifizierung des Planeten. Der GULAG sei auch ohne die Russen schon da. Der Lebkuchen-GULAG des Westens, wo Unmündigkeit gezüchtet wird. In Russland mit Peitsche, im Westen mit Zucker. Auch ausserhalb des Stacheldrahtes.
„Unsere Aufgabe in Ost und West sollte sein, die Menschen weder in den Käfig hineinzuprügeln, noch sie dorthin mit Leckerbissen zu locken.“
GULAG sei überall dort, wo der Konformismus den Widerstand besiegt habe.
Aus "Wolodja, der Massenmensch"
Über Wladimir Schirinowski
Wladimir Wolfowitsch, stellen Sie sich doch, bitte, in diese Brotschlange in der flachen russischen Provinz hin, kompaktnej poschalujsta (noch dichter heran, bitte), ja, so ist es gut. Sehen Sie, Sie unterscheiden sich tatsächlich durch nichts von den anderen. Sie stehen mitten im lebendigen sowjetischen Alltagserbe, in der Keimzelle der Masse. Und die Schlange wächst und wächst. Das ist Ihr politisches Kapital. Diese unberechenbare Grösse mit diffusen Rändern, diese kascha, der Brei, die einheimische kulinarische Spezialität, die Essration der Roten Armee und der Bewohner des GULAGs, die kascha, mit der auch jede Ninotschka und jeder Iwanuschka gerne den Tag anfangen. Sie versprechen dem hungrigen Rentner das private Paradies: „Zum Frühstück ein Butterbrot mit Käse und Brei.“ (...)
„Wir sind eine kosmische Nation. Die grosse russische Sprache und der russische Rubel werden die Völker zu einer einzigen russischen Nation verschmelzen. Nicht Türken, Perser, Tadschiken, sondern Bürger. Rossijanin, das wird wie heute Amerikaner, Europäer klingen. Das ist das Schicksal Russlands, seine Bestimmung, seine Heldentat“. (...)
Wladimir Wolfowitsch, ich bin in Sorge um Sie, dass das Kabarett und vor allem die Psychiatrie Ihren Namen entwenden werden, um aus ihm einen Terminus technicus für eine Massenpsychose zu schaffen, für diesen uralten, ungezwungenen Drang Russlands nach Ausdehnung. Und jene Traditionsbewussten, deren Körpergrenzen immer noch an den Grenzen der verflossenen Sowjetunion enden, wird man als zwanghaft bezeichnen und ihren echten Schmerz darüber, dass sich wieder eine ehemalige sowjetische Republik abtrennt, als Phantomschmerz.
Aus "Der Pate und der kommerssant"
Russisches bisness im Fernen Osten
Hier ist der Anfang der Menschheit. Der Mann ist noch Jäger, seine Trophäen trägt er bei sich, die schwarze Lederjacke, Import aus dem benachbarten China, das Päckchen amerikanischer Zigaretten und den japanischen Gebrauchtwagen, den er im Hafen von Wladiwostok erbeutet hat. Das Leben ist kurz und schnell. Die Taiga wird unter den rivalisierenden patriarchalen Stämmen aufgeteilt. Über Nacht kann man reich oder als verkohlte Leiche aufgefunden werden. Der junge Mann mit dem gestylten kurzen Haarschnitt nennt sich kommerssant, seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis arbeitet er, mit der Waffe unter dem Blazer, für einen einflussreichen bisnessmjen. Er rast über die Hügel des russischen San Francisco in der vom Stillen Ozean kommenden Brise, zwischen den Hochhäusern, dort, hinter dem schwarzen Staub des Wohnsilos im 14. Stock, liegt seine bescheidene Hütte. Der Mann hat das breite, grobe geschnitzte Gesicht des monumentalen Matrosen vom Denkmal der Revolution am Hafenplatz. Der Granitmatrose kniet auf einem Bein, schaut vorrevolutionär zuversichtlich auf die atomaren U-Boote und das Kriegsschiff Admiral Pantelejew mitten im Erbe der Gewalt dieser bis 1985 geschlossenen Militärstadt.
In einem neueröffneten Fitnesszentrum hat der junge Mann seine Muskeln gehörtet, deren Kraft er jedoch kaum brauchen wird. Ihr betontes Vorhandensein genügt als Siegel zum mündlichen Vertrag und das karge, wohlüberlegte Manneswort als Unterschrift.
Der Anfang der Menschheit ist ernst, schriftlos, der Humor ist noch nicht da, die Zweideutigkeit wäre lebensgefährlich, das Denken ist schnörkenlos, Selbstkritik eine unverzeihliche Schwäche. Wir sind noch im Wald, und der Stamm wähnt sich in ständiger Gefahr. Hier gibt es das Reich des Lichtes und das der Finsternis, das „Wir“ und die „anderen“, das Gute und das Böse, die Macht der Unterwelt und die der Behörden. Wer ist die Mafia? Die Mafia sind nicht wir, das sind die anderen, wir sind gerecht, der rechtsgläubige Gott steht uns bei.
Rezensionen
„Falsche Mythen“ ist eine Sammlung von Reportagen über Orte, Menschen, Konflikte und den Alltag in Ländern des ehemaligen Ostblocks, die Irena Brežná zwischen 1989 und 1996 für verschiedene Schweizer Magazine schrieb. Brežná deckt falsche Mythen auf und räumt sie gründlich aus, um sie durch wunderbar subtile, kenntnisreiche Beschreibungen auf hohem literarischen Niveau zu ersetzen. (...)
Sie erzeugt in ihren Beobachtungen und Reflexionen eine Synthese zweier Welten, die belebende Denkanstösse wohl für alle interessierten Beteiligten bietet, unabhängig davon, auf welcher der beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs sie leben. Die intime Kenntnis von Sprache(n), Lebensgefühl und Weltsicht in der als „Osten“ bezeichneten geographischen Mitte Europas trägt viel zu der besonderen Dichte bei, mit der Brežná ihren LeserInnen im „Westen“ Information, Stimmungsbilder, Verständnis vermitteln kann - im wahrsten Sinne des Wortes eine bildende Lektüre, stilistisch so brillant und intelektuell so reizvoll, dass der Lernprozess ein pures Vergnügen ist. Brežná weiss, dass ihre Position stets die westliche Position ist, ob sie nun Porträts des postkommunistischen Lebens ehemaliger DissidentInnen zeichnet, mit dem Populisten Schirinowski abrechnet, die Rolle der Mafia im jäh in die Marktwirtschaft gekippten Russland zu ergründen sucht oder die slowakische Heimatstadt beschreibt. „Die Journalistin aus dem Westen“ ist und bleibt sie für ihre GesprächspartnerInnen. Dass dieser höchst sensible Bewusstseinsstand in allen ihren Berichten durchgängig transparent gehalten wird, ist ein nicht hoch genug anzurechnendes Verdienst. Zu oft bleibst ansonsten in Reportagen für westliche Medien diese Tatsache völlig ausgeblendet und unreflektiert, woraus nicht zuletzt der beste Boden für „Falsche Mythen“ entsteht.
Helga Pantkratz, Weiber Diwan, 1996.
Unter den Reportagen der in der Schweiz lebenden Journalistin befinden sich auch ihre Aufzeichnungen bei der Wiederentdeckung der unter schmerzhaften Umständen verlorenen Heimat. Die melancholische Hinwendung zu der Art von Einfachheit, die in einigen Gegenden der ehemaligen Tschechoslowakei noch das Leben bestimmt, die Liebeserklärung an das rein Menschliche ohne die umfangreichen und vielfältigen Ausschmückungen, die unsere Zeit mit sich bringt, macht das Buch zu einer gefühlvollen Reise durch die Regionen Europas, die den unseren sehr nah liegen, uns aber ferner denn je sind.
Studentenzeitung der Humboldt-Universität, 1996.
Es sind ganz unterschiedliche Texte über die ehemalige Tschechoslowakei und die ehemalige Sowjetunion, die hier zusammengefügt wurden. Das gibt es Reportagen, zum Beispiel über die Slowakei am Vorabend ihrer Unabhängigkeit oder über die Rückkehr der 1944 deportierten Krimtataren. Da gibt es den Essay „Sprachbilder“, in dem Brežná ihr Verhältnis zu Sprache und Schreiben reklektiert. Und da gibt es vor allem Porträts, von dem Menschenrechtler Sergej Kowaljow, von der Schriftstellerin Libuše Moníková oder von einem russischen Mafiaboss. Die Skepsis verfliegt schnell. Brežnás Texte sind mehr als nur Erkundgungen gesellschaftlicher und politischer Veränderungen - das sind sie auch: Ihr Augenmerk gilt nicht den Umbrüchen in der grossen Politik, sondern vielmehr deren Auswirkungen auf die Menschen. Dabei hat Brežná als Emigrantin den Vorteil, dass sie immer mittendrin ist, immer irgendwo anknüpfen kann, sei es durch persönliche Bekanntschaften, sei es durch ihre Vergangenheit. Sie nimmt lose Enden wieder auf, sucht nach Kontinuität in Zeiten des Wandels und bemüht sich, das Neue zu verstehen, manchmal abwartend, meistens aber offensiv und vor allem im Dialog mit den Menschen. Und das ist, was an Brežnás Texten fasziniert: Es sind engagierte und leidenschaftliche Texte, Texte, die nicht Distanz und Objektivität vortäuschen, sondern pointiert Stellung nehmen zu den Phänomenen einer Umbruchzeit. (...)
Brežná Texte, besonders diejenigen über Tschechien und die Slowakei sind im wahrsten Sinne subjektiv, persönlich; bisweilen gewähren sie beinahe intime Einblicke.
„Ich suche das Grab meines Grossvaters. Und ich verspreche ihm, hier begraben zu werden. Das Bekenntnis zu diesem Ort will ich lediglich im Tod ganz einlösen.“
Dieses Unbehaustsein der Emigrantin, ihre innere Zerrissenheit kleidet Brežná in eigenwillige Sprachbilder. Sie feiert ein „Wiedersehen mit der Muttersprache nach zwei Jahrzehnten Trennung“, sie kokettiert mit ihrer „sprachlichen Promiskuität“, aber letztlich ist sie eben doch „ein ehrgeiziges Adoptivkind der deutschen Sprache. Ich habe Zuflucht bei ihr gefunden vor der klebrigen, verführerischen Muttersprache, von der ich mich jedesmal mit viel Kraft losreissen muss. Mit schlechtem Gewissen nehme ich Abschied von ihr. Doch ich eile, eile ins helle Haus der deutschen Substantive.“
Ein schlechtes Gewissen, ob begründet oder nicht, auch bei der Konfrontation mit ihrer eigenen Geschichte.
„Sie sind dageblieben, ich bin damals gegangen.“ Das Wiedersehen mit der Heimat bringt Begegnungen von wunderbarer, schmerzhafter Intensität, aber auch das Gefühl, eben doch nicht mehr dazuzugehören. Nach drei Wochen in Bratislava fühlt sich Irena Brežná in Wien „vom Druck der slowakischen Homogenität wieder befreit. Ich atmete tief als Fremde unter Fremden, heimisch in der Vielfalt.“
Dorothea Trottenberg, Wochenzeitung, 15. 11. 1996.
Nach mehr als zwanzig Jahren reist die Journalistin Irena Brežná Ende 1989 wieder in ihre ehemalige Heimat, die Tschechoslowakei. Sie begegnet vielem, das ihr vertraut ist, aber sie spürt auch eine grosse Distanz und Fremdheit, wird sich ihrer Situation als Emigrantin deutlich bewusst. Dieser Reise folgen weitere in die unterschiedlichen Staaten Mittel- und Osteuropas. Irena Brežná dokumentiert behutsam und offen Hoffnungen, Ängste und Fragen, die die Menschen angesichts der politischen Umbruchsituation beschäftigen. Sie selbst bleibt dabei immer Beteiligte, beobachtet sich selbst in diesem Umbruchprozess. Trotz vieler offenen Fragen strahlen die Reportagen Optimismus und Zuversicht aus. Selten habe ich eine so gelungene Mischung aus Sozialreportage und Selbsterfahrung gelesen.“
sky,Verband binationer Familien und Partnerschaften, 4/1996.
Die Bezeichnung „Reportagen aus Mittel- und Osteuropa nach der Wende“ ist fast allzu bescheiden, und insofern ist sie nicht ganz zutreffend, da Irena Brežnás Texte übers sachliche Beobachten und Rapportieren hinausgehen. Wenn sie als Emigrantin in ihre ehemalige Heimat zurückkehrt, dann beginnt allerhand in ihrem Innern zu vibrieren, da ist sie nicht schlechthin „objektive“ Reporterin, da setzt ein Hin und Her von Gefühlen, Erschütterungen und Erregungen ein. Dass Irena Brežná diese Bewegtheit auszudrücken weiss, ohne die sichtbare Welt darob zu vernachlässigen, das macht die besondere Qualität mancher dieser Arbeiten aus. Andere, die aus dem heutigen Russland, z.B., sind distanzierter, kühler, kritischer. Auch diese haben jedoch ihren Reiz und ihren Informationsgehalt. Stärker und gewinnender wirken indessen noch die, in denen die Autorin ihr persönliches Beteiligtsein vermittelt.
Der Bund, c.c., 1996
Die Basler Journalistin Irena Brežná, die 1968 aus der Slowakei emigrierte, bricht 1989 nach dem Fall des „eisernen Vorhangs“ zu Entdeckungsreisen in ihre ehemalige Heimat, weiter nach Russland und in die Ukraine, auf. Wir lernen die Frauen der „samtenen Revolution“ 1989 in Bratislava und Kaschau kennen, die nach der Wende aus der Politik wieder in die Küche vertrieben werden; die russischen Bürgerrechtler Andrei Mironow, Wladimir Bukowski und Sergej Kowaljow; die Krimtatarinnen Aische Seitmuratowa und Naila Isamailowa, die 45 Jahre nach den stalinistischen „ethnischen Säuberungen“ in ihre Heimat zurückgekehrt sind; den russischen GULAG-Veteranen Waleri Abramkin, der als Mitglied der Organisation „Penal Reform International“ gegen menschenunwürdige Haftbedingungen kämpft; den russischen Rechtsextremisten Wladimir Schirinowski, der sich „nach neuen Aufgaben für Russlands Armee“ sehnt; und schliesslich den „Paten“ der russischen Mafia in Wladiwostok, einen scheinbaren Gewinner der neuen Zeit. Die dreizehn Reportagen sind keine faktenstarrenden Analysen, sondern berührende Geschichten von Menschen.
Felicitas Rohder, Pogrom, Zeitschrift für bedrohte Völker, 1996
Der Sammelband berichtet über die wunde, irrational hoffende „Volksseele“, über politische Scharlatane und russische Dissidenten. Eigene Reflexionen, Beobachtungen und Faktendichte ergeben ein überzeugendes, oft erschütterndes Psychogramm des osteuropäischen Umbruchs. Die Autorin ist mitunter lyrisch „beteiligt“, als Emigrantin jedoch distanziert genug, um Pathos zu vermeiden. So stimmungsdichte und aktuelle Berichte über Russland und die Slowakei wird man derzeit vergeblich suchen.
Robert Elstner, ekz-Informationsdienst, ID38/96
Das Herzstück des Buches, „Sprachbilder“ genannt, öffnet uns die Welt der Autorin, aufgewachsen im slawischen Sprach- und Gedankenraum, heute in der Schweiz lebend und schreibend; doch ihr „Konjuktiv des Ostens“ durchdringt die deutsche Sprache, bricht deren nüchternes Licht in tausend Facetten. Man meint beim Lesen slowakischen Schnaps im Gaumen zu schmecken, klebrig und verführerisch, wie Irena Brežná ihre Muttersprache nennt. Wer sie mit offenen Sinnen aufnimmt, hat nach der Lektüre des kleinen Buches gelernt: Der „Osten“ verdient weiterhin unsere Aufmerksamkeit.
Margrit Rohde, CH-Bibliotheksdienst, 1996
Irena Brežná...ist radikal subjektiv und autobiographisch, gleitet aber nie ins Geschwätzige ab, im Gegenteil: Ihre Art „Ich“ zu sagen, erscheint als das beste Mittel, sich Gesellschaften zu nähern, die über vier Jahrzehnte lang vom Kollektivwahn eines imaginären „Wir“ besessen waren. Die Autorin wurde 1950 in Bratislava geboren und emigrierte 1968 in die Schweiz; ihr „doppelter Blick“ ist einer der ganz grossen Pluspunkte dieses ungewöhnlichen Buches. Im Winter 1989 kommt sie das erste Mal in ihr Land zurück.
„Eine Mitarbeiterin des Bürgerforums führt uns zum Wenzelsplatz: überall Plakate, brennende Kerzen für die Opfer des Kommunismus. Ich glaube es langsam. Die Tschechoslowakei wird frei. Parolen, die hier einen lebensnotwendigen Inhalt haben: Freiheit, Demokratie, Pluralismus, Wahrheit, Gerechtigkeit, sanfte Revolution, vereintes Europa...“
Doch die Euphorie verfliegt schnell. Nostalgie mischt sich mit Nationalismus, die Slowakei bevorzugt den Separatismus, und die Emigrantin fühlt sich erneut als Fremde:
„Zuerst Freudentaumel über geöffnete Horizonte, dann wird es bange ums Herz.
„Unser homogenes slowakisches Volk wird jetzt auseinanderbrechen“, verkündet Darina, meine ehemalige Lehrerin. Die versammelten Schulfreundinnen von damals blicken mich erschreckt an:
„Wird es tatsächlich mit dem Einzug der Freiheit zerfallen?“
Sie warten gespannt auf die Meinung einer, die die Freiheit kennengelernt hat.
„Na, ja“, ich zögere in die undankbare Rolle der Zerstörerin von Tabus zu schlüpfen.
„Es wird halt seine Homogenität einbüssen. Und was ist schon dabei?“
Als stumme Antwort bekomme ich vor Schmerz verzogene Gesichter, als wäre ich eine unverschämte Diebin, die ihren Verwandten im geplünderten Haus das Letzte siehlt. (...)
Und sie recken sich bequem auf dem folkloristischen, mit farbigen Vorurteilen bestickten Sofa. Opfer, die längst Täter geworden sind. Inzwischen verlässt fast eine halbe Million vietnamesischer Gastarbeiter die Tschechoslowakei. Meine Klage bleibt. Diese moralische Entrüstung leiste ich mir als Fremde und als Beheimatete.“
Diese vermeintliche Küchen-Perspektive erhellt das Wesentliche, den tragischen Zusammenhang zwischen der sogenannten „östlichen Gemütlichkeit“, dem Sinn für Humor und Witze auf der einen Seite und das völlige Fehlen individueller Verantwortlichkeit und geistiger Offenheit auf der anderen. So sensibel, aber auch so prägnant ist über derlei Mentalitätsmuster bisher kaum geschrieben worden. Die Kenntnis dieses besonderen Geisteszustandes ist notwendig, um die Situation nach 1989 verstehen zu können. Westliche Beckmessere hilft da ebensowenig weiter wie die pseudoironische Schönfärberei der Dieckmanns, Bertrams, Osangs und anderer Propagandisten der „Ost-Identität“. Neben Reflexionen über den Status des Emigranten, die Chancen doppelter Welt- und Spracherfahrungen und die Hintergründe des neuen Nationalismus, wendet sich Irena Brežná auch dem Leben in der ehemaligen Sowjetunion zu. Sie trifft Dissidenten wie Sergei Kowaljow, der seine Leidenserfahrungen nicht wie ein Plakat vor sich herträgt und stattdessen sagt:
„Der Mensch ist kein Held, und er soll auch keiner sein. Die Liebe ist höher als die Gerechtigkeit. Heute kann man endlich ein normaler Mensch mit Schwächen sein und gleichzeitig die eigene Würde bewahren.“
Auf die Bemerkung seiner Gesprächspartnerin, dass er doch in den siebziger Jahren immerhin eine kompromisslose Wahl getroffen und sieben Jahre Lagerhaft und drei Jahre Verbannung auf sich genommen habe, antwortet Kowaljow:
„Ja, aber ich werde nur dann ein Mensch bleiben, wenn ich dauernd bedauern werde, dass ich gezwungen war, diese Wahl zu treffen.“
Irena Brežná ist eine aufmerksame Beobachterin, der es gelingt, von Alltagsdetails auf gesellschaftliche Zustände zu schliessen. Über die graue Freudlosigkeit, die auch nach dem Zerfall der Sowjetunion die Menschen in Moskau wie steinerne Masken aussehen lässt, schreibt sie:
„Die Maske des Gleichmuts, die die Menschen hier in der Öffentlichkeit tragen, ist soziologisches Mimikryspiel. Äusserlich sieht man unansehnlich, düster aus wie ein Tier, das die Farbe der Umgebung annimmt. Man ist bestrebt, auszusehen wie alle. Doch das ist bloss Färbung, das bedeutet nicht, dass man im Inneren auch so ist. (...) Die Farbskala wird hier nach innen verlagert, Farben sind Prinzipien, das Erstrebenswerte ist ein Leben in Wahrheit. Dieses Wort klingt nicht pathetisch oder verschwommen im Reich der institutionalisierten Lüge.“
Ein paar dieser Lügner hat Irena Brežná persönlich getroffen, so auch Wladimir Schirinowski, der sich schwitzend vor ihr aufbaut und wirre Reden hält. Die Frau hört zu, widerspricht, zeichnet auf, was er sagt. Kein einziger falscher Ton entgeht ihr. Anders als viele westliche Intelektuelle, die den Osten bereisen, weiss sie sehr genau um den existenziellen Unterschied, der Täter von Opfern trennt. „Besondere Situationen“ oder „Geschichtliche Notwendigkeit“ lässt sie nicht gelten, wenn das Individuum entwürdigt wird oder man noch heute nichtsrussische Völker wie die Krimtataren diskriminiert, die von Stalin umgesiedelt und zu Tausenden ermordet wurden und nun langsam in ihre alte Heimat auf der Krim zurückkehren. Als Abkömling eines egalitären Systems weiss sie, dass Vielfalt und Freiheit nicht nur leere Worthülsen sind:
„Ich habe die Enge des Hofes (meiner Kindheit) durch die Welt hindurchgetragen, werde nie mehr von ihr loskommen. (...) Seitdem aber laufe ich Amok gegen geschlossene Systeme, gegen Zimmer mit fest zugeschlagenen Türen, kaufe mir Kleider mit Stilbruch, liebe nur brüchige Städte und eine verfremdete Sprache. Die Metropolen nehmen mich auf, die Geräusche an den Bahnhöfen sind der beruhigend Rhythmus der schaukelnden Wiege.“
Marko Martin, Deutschlandradio Berlin, 1996.
„Das mitteleuropäische Gesicht war nur für den Westen osteuropäisch. Verzweifelt drückte es über vier Jahrzehnte die fahlen Backen in den Stacheldraht, immer blickten seine Augen Richtung Westen“, schreibt Irena Brežná 1990, als sie nach Prag kommt.
Sie spricht mit den Menschen in ihrer Muttersprache. Mit der Schulkameradin weint sie am Küchentisch. Mit der ebenfalls ausgewanderten Schriftstellerin diskutiert sie über den Gebrauch der Fremdsprache Deutsch als besseres literarisches Verständigungsmittel einer Emigrantin. Den Bäuerinnen/Bauern, den ArbeiteriInnen in der Slowakei, die alle Vladimír Mečiar gewählt haben, geht es so wie dem Recken Janko in einem alten slowakischen Märchen, der am Scheideweg angekommen ist: „Gehst du rechts, wird es dir schlecht gehen, gehst du links, wird es dir noch schlechte gehen.“ Hier gab es nie die Illusion des guten, eindeutigen Weges, wie die Autorin erkennt....
Konservatismus macht sich breit. Frauen sollen zurück an den Herd und zu den Kinder. Vergessen sind die Doppelt- und Dreifachbelastungen. Die Vertreigung der Frauen aus der Politik ist eine traurige Tatsache. Fazit Brežnás:
„Ein postkommunistisches Land gebärdet sich, als sei die verhasste kommunistische Herrschaft eine Frauenherrschaft gewesen, und rechtfertigt so die Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Leben.“
Der russische Imperialismus zieht sich wie ein roter Faden durch den zweiten Teil des Buches. Auch der Ultranationalist Wladimir Wolfowitsch Schirinowski fehlt nicht in den Porträts. Nie im Leben sei er Faschist:
„Ich bin Demokrat, konservativ möglicherweise.“ Die Grenzen und den Lebensstil dürfe mann nicht ändern. Die Karriere der Frau schade der Gesundheit der Gesellschaft, eine Frau würde es in der Politik nicht schaffen. (...)
Das Buch zeigt ein Gesamtbild des nachkommunistischen Osteuropas aus der Sicht einer emigrierten Journalistin, die manchmal auch nicht mehr mit der Mentalität des ehemaligen Ostblocks zurechtkommen mag. Und immer wieder ist ihr alles so vertraut, als ob sie eben erst weggegangen wäre. Die Reportagen sind auch eine Spurensuche nach dem eigenen Ich, dem eigenen Selbstverständnis von Irena Brežná.
„Falsche Mythen“ ist eine interessante Darstellung vieler Facetten dieses Teils Europas und zugleich ein guter Einstieg für Westeuropäerinnen, um Lebensumstände und Denkweisen von Menschen aus Mittel- und Osteuropa besser verstehen zu lernen...die Sehnsucht nach diesem...so lange vorenthaltenem Teil unseres Kontinets.
Elisabeth Boyer, Das Buch des Monats, An.schläge, 1996
Alles beginnt noch einmal. Alles war schon einmal da. Nach mehr als 20 Jahren taucht es wieder auf. Ende 1898. Die Journalistin Irena Brežná reist in die samtene Revolution ihrer ehemaligen tschechoslowakischen Heimat. Die angstvollen Fragen der Kindheit drängen wieder hervor. Wer bin ich? Im ersten Teil der Reportagensammlung „Falsche Mythen“ sind wir Irena Brežná, sehen wir aus ihrer Sicht, im zweiten Teil sind wir in Begleitung von Irena Brežná. Zwischen 1989 und 1996 sind diese Reportagen aus dem ehemaligen Ostblock entstanden. Geschrieben wie unter einem sprachlichen Vergrösserungsglas. (...)
„Über den Fernsehschirmen wälzte sich Abend für Abend das Glück. Ein rundes. Ein skandierendes.“ Und der aufgeschreckte Sohn im Schweizer Heimatland: „Wo willst du hin? Warum dieser Dubček? Dieser Havel? Warum so eine Mutter?... Es hatte sie im letzten Jahrzehnt nicht mehr gegeben, diese Republik...Nur die Muttersprache blieb, mit der ich meine Kinder wie mit einer Schattennahrung fütterte, eine absurde Sprache ohne Nährboden, die wie von Eingebungen aus einer früheren Inkarnation lebt, Worte, die ich zweifelnd weitergab, als hätte ich sie erfunden.“
Die Heimat im Einmachglas, lautlose Vietnamesenorde, das Absurde und das Vakuum nach dem Verschwinden des Feindes und - „das Weinen..., es gehört in diesen Breitengraden zum Inbegriff der Glückseligkeit.“
...Irena Brežná schreibt über die Heimat in der Sprache, die Gefahr der eigenen Auflösung in der Muttersprache, himmlische, angsteinflösende, gefühlvolle Sprache. Der Ort ihres Sprechens, jenseits der Heimat: das Dunkelblau des Schweizerdeutschen, die Sprache ihrer Kinder. Schlaglichter. Weichheit und Schönheit als Kriterien der slowakischen Sprache. In diesen Reportagen kann man sie ahnen, die Präzision der Ironie und der Distanz, aber auch so:
„Das ist Mitteleuropa, die Region der Melancholie.“
Eine Begegnung mit Libuše Moníková in Berlin 1992. Zwei Sprachschmugglerinnen treffen sich im leergeschenkten Schreibzimmer beim Wein. Sie schreibt Deutsch. Das hilft. Das hat auch Irena geholfen.
Sprachbilder. „Die Faszination der Sprachen für mich ist körperlich, ich empfange die Sprache zuerst mit der Haut, dann giesst sie sich in Bilder, in neue Körper hinein.“
Wir erfahren, warum alles so nah erscheint: „Ich war ein slowakisches Mädchen... Ich war zunächst mal stumm. Das Schreiben fing dort an... Ich ziehe die deutsche Sprache an. Sie ist nicht meine Heimat geworden, sondern ein Geschenk des Zufalls. Ich habe bei ihr Zuflucht gefunden, vor der klebrigen, verführerischen Muttersprache, von der ich mich jedesmal mit viel Kraft losreissen muss.“
Mit der Reportage „Das Reich des unendlichen Provisoriums, Die Slowakei am Vorabend ihrer Unabhängigkeit" enden die Reiseberichte aus der alten Heimat, in der doch ein anderes Raum- und Zeitverständnis beginnt. (...) Den Profifotografen der Hamburger Agentur war das entgangen. Sie kehrten nach zehn Tagen mit harten Bildern zurück. Mit Bildern, die scharfe Konturen haben.
„Beim Übersetzen aus dem Deutschen in die slawischen Sprachen arbeitet man auflösend, Konturen dehnen sich, verschwinden.“
Im zweiten Teil bereisen wir mit der russisch sprechenden Irena Brežná die ehemalige Sowjetunion. Das Vergrösserungsglas ersetzen wir durch eine gute Brille. Wir treffen ehemalige Dissidenten als selbstproduziertes Gewissen des Sowjetimperiums, wir beobachten die Rückkehr der Krimtataren, begleiten den Menschenrechtler Sergei Adamowitsch Kowaljow, begegnen Wladimir Wolfowitsch Schirinowski im Lift und besuchen den Paten Pudel in Chabarowsk. Wir sehen die Funktion des GULAGs als kulturprägendes russisches Phänomen, aber auch als eine Gefahr überall dort, wo der Konformismus den Widerstand der Menschen besieg hat. Irena Brežná hält uns an ihrer warmen slawischen Brust und zeigt uns, was wir nicht wissen von Mittel- und Osteuropa. Sie gibt Einblicke: Spannend, sinnlich und wunderbar geschrieben.“
Rosemarie Seidel-Zöller, Tageszeitung, 28.9.1996.
Der Band beginnt mit einem Essay, fein geschliffen wie böhmisches Glas: Der Text "Meine kleine revolutionäre Zelle" erzählt davon, wie die samtene Revolution bei den tschechoslowakischen Emigranten in Basel ankommt, wie Gefühle und Erinnerungen wachgeküsst werden, heftige Aktivität ausbricht. Sie erzählt von dem Heimweh, das in die Ferse verbannt war und sich wieder meldet, vom Kulturschock bei der Reise in die alte Heimat und der schnellen Verwandlung der kleinen Gruppe die „in der längsten Woche der Emigration“ in Basel „zögernd, voller Zärtlichkeit“ zueinander gefunden hatte. Nach ihrer Rückkehr sind die Sensiblen den Pragmatikern gewichen, und wahrscheinlich verstehen nur alte Linke die Sätze, mit denen ein Freund sie begrüsst: „Weisst du schon das Neueste? Du bist gerade Mitglied einer Kulturfraktion geworden. Mit dir sind wir schon zwei.“
Brežná beobachtet und erklärt, fühlt und fragt, zitiert Mythen oder stellt Meinungen nebeneinander, nicht richtig oder falsch, nicht konservativ oder progressiv, nicht objektiv und nicht nur subjektiv, eher dazwischen. Für eine Diskussion über die Frage, ob „die Emigranten und Emigrantinnen das zukünftige Ich Mitteleuropas“ sind, dürfte es von grossem Vorteil sein, dass Brežná in der Schweiz Asyl gefunden hat und nicht in Deutschland lebt.
In dem Bericht über die Gespräche in der Küche bei Tee und dem kleinen Stück Biskuit, das geteilt wird, steckt mehr als nur „ein wenig Sehnsucht nach jener Atmosphäre der Solidarität“. (...)
Die vielen Fragen, die in diesen Texten stecken, scheinen fortzuführen, was die kritischen und sensiblen Emigranten angefangen hatten, als sie sich 1989, nach den ersten Nachrichten aus Prag, in Basel zusammengesetzt hatten, bei McDonald`s, weil es so (überraschend viele waren, dass sie in keiner anderen Kneie Platz fanden.
Freitag, Berlin, 1996
Betrachtung und den intensiven Wahrnehmungen seelischer Schwingungen zwischen bekenntnishaftem Charakter und Bildhaftigkeit, Spannungsfelder, die gerade in „Falsche Mythen“ deutlich erkannbar werden und nicht unwesentlich zu deren Reiz beitragen. (...)
Wer solcherart seine Position umschreibt, kann und will es sich nicht zu einfach machen, nicht im Hinblick auf die Sicht der Dinge und Erscheinungen und nicht beim Hineinhorchen ins eigene Innere, sondern sieht sich vielmehr genötigt, Problemfelder mehrmals und aus unterschiedlicher Distanz einzukreisen. (...)
Über weite Strecken ist „Falsche Mythen“ ein Buch der Begegnungen und der Wiederbegegnungen. (...) Wenn in einer Passage, bezogen auf Mitteleuropa, von einer „Region der Melancholie“ gesprochen wird, verweist dies zweifellos auf eine der Autorin nicht fremde Lebensstimmung. Als ein wirksames Gegenmittel zu Melancholie angesichts teils verschütteter, teils verödeter Lebenslandschaften bietet sich jene verhaltene Ironie an, die Irena Brežná in ihren Darstellungen auf souveräne Weise einsetzt. (...)
In „Falsche Mythen“ wird weitgehend auf Spekulatives, Hypothesenbildungen verzichtet, stattdessen finden sich eindrucksvolle, lebendige Berichte und klarsichtige Analysen der Lage.
Hanns Schaub, Landbote, 1996